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Erfolgsgeschichte

Vom Buch auf die Bühne

Ich kam vor 40 Jahren zum ersten Mal mit Mary Poppins in Berührung, als ich den bezaubernden Film von Walt Disney sah. Damals war ich gerade mit der Schule fertig geworden. Die Figur der Mary war derart außergewöhnlich, dass ich weder sie noch die wunderbaren Lieder der Gebrüder Sherman aus dem Kopf kriegen konnte. Ich war interessiert genug, den ursprünglichen Roman zu lesen, und ich stellte zu meiner Überraschung fest, dass es mehrere Bücher und viele weitere Geschichten, Figuren und Abenteuer gab, als in der Verfilmung vorkamen.

Kurz nachdem P. L. Travers das erste Poppins-Buch im Jahr 1934 herausgebracht hatte, sprach sie Bea Lillie wegen einer möglichen Verkörperung der Figur auf der Bühne an, und im Jahr 1948 schrieb der damals 18-jähriger Stephen Sondheim mehrere Lieder für eine eigene Bearbeitung, die allerdings nie zur Vollendung gelangte. Ich versuchte schon vor 30 Jahren zum ersten Mal, mir die Bühnenrechte an Mary Poppins zu sichern, so wie zahlreiche andere Produzenten auch, hatte aber keinen Erfolg. Während der nächsten 15 Jahre schwirrte Mary immer in meinem Kopf herum, aber erst im Jahr 1993 konnte ich endlich ihre Erfinderin, Pamela Travers, kennen lernen. Sie war damals schon 93 Jahre alt. Sie saß am Fenster ihres Hauses im Londoner Stadtteil Chelsea, das in einer Straße stand, die mit dem Kirschbaumweg eine frappante Ähnlichkeit hatte, eine gebrechliche aber äußerst helle und aufmerksame Dame, die mich von Kopf bis Fuß musterte und mir viele Fragen über ihre Figuren und die Art vom Musical stellte, die mir vorschwebte. Als ich versuchte, Informationen aus ihr herauszulocken, kam ich mir wie Michael und Jane Banks vor, die nur auf das Urteil warten.

Im Zuge mehrerer Gespräche befand Pamela, dass sie mir ihr großes Werk anvertrauen konnte (wobei sie niemals behauptete, Mary geschaffen zu haben; sie sagte nur, „Mary ist einfach erschienen") und mir gelang es, sie zu überzeugen, dass eine Bühnenversion nur aus einer Kombination von ihren Geschichten mit den wesentlichen Elementen und Liedern aus dem Film entstehen und etwas völlig Neues werden könnte. Bis dahin hatte sie immer die Ansicht vertreten, dass eine Bühnenversion neue Musik brauchen würde und an dieser Vorgehensweise hatte ich kein Interesse. Ihr zwiespältiges Verhältnis zur Verfilmung ist ja bekannt, aber ich hatte stets das Gefühl, dass sie ihr besser gefiel, als sie öffentlich zugeben wollte. Auf jeden Fall, als sie die Geschichte für eine filmische Fortsetzung schrieb, die aber niemals gedreht wurde, hatte sie überhaupt nichts dagegen, dass sie in der Edwardianischen Zeit spielen sollte und nicht in den 1930er Jahren wie in den Romanen. In den 1990er Jahren war mir also die Möglichkeit zum Greifen nahe, mir neben den Disney-Rechten auch noch die Rechte der Frau Travers zu sichern und folglich hatte ich mehrere Gespräche mit Michael Eisner. Obwohl allen die Idee gefiel, war die Zeit dafür noch nicht reif. In meinen 35 Jahren als Produzent habe ich gelernt, dass solche Verzögerungen generell etwas Positives sind. Wann immer eine Show ein Erfolg wird, ist dies in hohem Maße dem Schicksal zu verdanken – durch den Beinahe-Zusammenbruch des Bankenwesens 2008 ist das Dilemma des Mr. Banks in unserer Story brennend aktuell geworden. Auch wenn zu dem Zeitpunkt noch keine Vereinbarung zwischen Disney und mir bestand, konnte ich die Zeit nutzen, um mich intensiv mit den Büchern auseinanderzusetzen und zu versuchen, eine Struktur für ein Bühnenstück zu finden.

Magische Reise auf der Bühne

Allmählich wurde ein Muster erkennbar: Viele der Geschichten behandeln ähnliche Themen und ich erkannte die Möglichkeit, einige Geschichten zu kombinieren, um bestimmte vorhandene Lieder für die Bühne zu bearbeiten und ihnen somit eine andere narrative Funktion als im Film zu verleihen. Es würde ja nie möglich oder wünschenswert sein, die grandiose und innovative Mischung aus Real- und Trickfilm auf die Bühne zu bringen. Wieder war es Pamela, die mir zur Lösung verhalf. Ihre Geschichten und ihre Konversation sind alle mit Anspielungen auf Tanz gespickt, der ja die perfekte Form für die Darstellung der magischen Reisen auf der Bühne außerhalb des Kirschbaumwegs ist. Die zweite frühe Entscheidung entstammte der Erkenntnis, dass eine musikalische Neuschaffung der Show nur mit der Mitwirkung von Songschreibern möglich wäre, die die Lieder der Sherman-Brüder liebten und neues Material schreiben könnten, die sowohl sie als auch den Witz, den Stil und die Fantasie des Dialogs der P. L. Travers ergänzen würden. Als ideales Team stellten sich George Stiles und Anthony Drewe heraus, die ich seit unserer ersten Zusammenarbeit bei den Just So Stories von Kipling seit Jahren kannte, und als sie erfuhren, dass ich die Show eventuell inszenieren würde, schrieben sie „Practically Perfect" „auf Verdacht" – sie reichten es für mich 1993 ein - und warteten geduldig. Ich hielt es für „practically perfect" und genau in dem Stil, der für die Show gebraucht wird. Derzeit wird das Lied genau wie in ihrer Demoaufnahme gespielt und ist zu einem zentralen Mary-Poppins-Song geworden.

Im Dezember 2001, fast zehn Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Pamela, kam, genau wie Mary aus heiterem Himmel, eine weitere ganz besondere Persönlichkeit in mein Leben. Tom Schumacher, neuer Chef von Disney Theatrical, kam nach London, nicht um einen Vertrag zu unterzeichnen, sondern um herauszufinden, was ich plante. Als ich ihm erklärte, wonach ich suchte, wurde klar, dass wir beide das gleiche wollten: Eine Show, die vertraut und überraschend zugleich wirkt, die das Beste aus den Büchern und dem Film zu etwas Neuem vermischt. Das Treatment, das ich konzipierte, wurde ein grober Ausgangspunkt für unsere Show. Tom war von George und Anthony genauso begeistert wie ich und das Projekt nahm sehr schnell Fahrt auf. Eine Zusammenarbeit dieser Art war für Disney klarerweise ungewöhnlich, aber durch Toms enthusiastische Unterstützung erfuhr ich, dass Michael Eisner eine Schwäche für MARY POPPINS hat, die ihn dazu veranlasste, unsere Pläne trotz seiner früheren Zurückhaltung voranzutreiben.

Um mit Mary weiter zu kommen, brauchten wir einen Buchautor, der nicht nur den vorhandenen Stoff straffen, sondern auch seinen eigenen Stil nahtlos einfügen würde. Wieder dachte ich an einen alten Freund, Julian Fellowes. Zwar hatten wir noch nie zusammengearbeitet, aber ich bewunderte ihn als Schauspieler und, als Gosford Park ins Kino kam, stellte ich freudig fest, dass er auch ein immens talentierter Autor ist. In seinen Drehbüchern versteht es Julian prächtig, die verschiedenen Handlungsstränge mit einander zu verbinden, und das mit einem echten Gefühl für die Zeit und mit humoristischem Elan. Der Film überzeugte mich, so dass er die perfekte Wahl für unsere genauso ungewöhnliche Aufgabe war.

Als Nächstes brauchten wir eine ganz besondere Mischung von Talenten für die Inszenierung. Von Anfang an hatte ich gehofft, dass Richard Eyre an der Regie von MARY POPPINS interessiert sein würde. Er war von der Idee sofort fasziniert und fand sowohl die Bücher als auch die ungewöhnliche Herausforderung unwiderstehlich, ein Stück auf die Bühne zu bringen, die eine Familiengeschichte erzählt und gleichzeitig ein mitreißendes Drama mit Tanzeinlagen ist. In Wirklichkeit brauchte die Show zwei Regisseure und deswegen war ich erleichtert und sehr froh, als Matthew Bourne und Richard sich zu einer Zusammenarbeit bereit erklärten, um aus der Mischung von Real- und Trickfilm der Kinoversion eine für die Bühne geeignete Fassung zu schaffen. Uns war klar, dass eine äußerst vielfältige Choreographie erforderlich sein würde, und zu diesem Zweck wurde eine weitere Zusammenarbeit in die Wege geleitet, diesmal zwischen Stephen Mear und Matthew, deren ganz persönliche Stile sich so gut ergänzen. Für alle war es selbstverständlich, dass der hervorragende und fantasievolle Bühnenbildner Bob Crowley den zauberhaften Geschichten ein einzigartiges Erscheinungsbild verleihen könnte. Zum Schluss stellten wir den Rest unseres Teams zusammen. Der legendäre Broadway-Arrangeur Bill Brohn und der Licht-Designer Howard Harrison haben alle zum Erfolg vieler meiner früheren Produktionen beigetragen. Mit Richard als Leiter eines so erfahrenen Teams wussten Tom und ich, dass die Show in den besten Händen war. 

Im Januar 2003 fingen wir an. Zu Beginn pendelte ich zwischen Julian und George und Anthony, bis wir genug Material beisammen hatten, um mit der Verbindung der Dialoge und der Lieder zu beginnen. Ich hatte George und Anthony die Aufgabe erteilt, ein Lied pro Woche zu schreiben, und wie durch ein Wunder hielten sie sich beinahe daran! Bald arbeiteten alle drei zusammen und wurden von regelmäßigen Einwürfen meinerseits angespornt. Alle paar Wochen trafen wir uns und legten die Früchte unserer Arbeit Richard, Matthew, Tom und Bob zur Begutachtung vor. Danach brachen wir wieder auf, um unsere Hausaufgaben zu machen. Unser Ziel war eine Leseprobe des ersten Entwurfs im September 2003. Auch wenn die Leseprobe zeigte, dass mehr Arbeit notwendig war, war auch klar, dass wir eine Show hatten. Die neuen Nummern von George und Anthony fügten sich nahtlos in den Stil der ursprünglichen Lieder der Sherman-Brüder ein. Man konnte nicht sagen, wer was geschrieben hatte. Die Sherman-Brüder waren hocherfreut und auch hilfsbereit. 

Als kleines Mädchen im ländlichen Queensland, Australien, verschlang Pamela Märchen aus der Familienbibliothek. Ihre Lieblingsgeschichten waren jene der Gebrüder Grimm und sie nannte alle Märchen „Grims", wodurch in der Familie das Wort „grim", zu Deutsch „grauenvoll", für Geschichte aller Art verwendet wurde. Pamelas eigene Geschichten fast hundert Jahre später auf die Bühne zu bringen war aber alles andere als grauenvoll. Wir alle haben eine fantastische und aufregende Zeit gehabt. Am Tag, als Richard begann, die geprobten Szenen zusammenzustellen, hörte ich ihn sagen: „Das tut richtig gut Ich denke, Pamela Travers hätte das auch so empfunden.“

"Sir Cameron Mackintosh im Dezember 2011"